Namur
Dunkelheit, von vereinzelten Blitzen durchzuckt. Wind heult, Regen peitscht die Bäume auf. In einer verlassenen Scheune drängen sich ängstliche Körper aneinander. Zucken bei jedem Donnerschlag. Augen, so groß, dass man fast nur Weiß sehen kann, starren angestrengt zum Scheunentor. Körper zittern unkontrolliert gegen das Entsetzen. Entferntes Hundegebell ist zu hören. Aufgeregte Rufe. Eine der Gestalten krümmt sich. Weint leise. Eine andere legt schützend die Arme um sie. „Hierher!“ ruft es von draußen plötzlich, drinnen sind verzweifelte Schreie zu hören. Das Scheunentor wird aufgerissen, grelle Lichtkegel fluten in die Finsternis. „Ich hab sie!“ schreit jemand, dann mischen sich Gewehrschüsse mit neuem Donnergrollen.
„Ich habe einen Anruf von Valicek erhalten. Kahrbauer soll an einem Artikel über Belgien schreiben.“ Zwei dunkle Gestalten stehen vor dem Seiteneingang eines seelenlosen Bürogebäudes und blasen enorme Dampfschwaden aus ihren E-Smokes. „Ich hatte dich gewarnt. Habe ich dir nicht gesagt, dass dieser verdammte Schmierlappen nicht locker lassen wird?“ Die Stimme des Sprechers klingt gereizt. Ein leichter, englischer Akzent unterstreicht den herablassenden Tonfall. „Ja, Jeff.“ murmelt eine zweite, jüngere Stimme kleinlaut. „Dieser Kerl ist ein fucking Terrier, habe ich das nicht zu dir gesagt?“ Der Mann atmet eine Dampfwolke aus, die sofort von einem kalten Windstoß zerrissen wird. „Ja, Jeff.“ kommt die unterwürfige Antwort von seinem Gegenüber. „Und was hast du zu mir gesagt, Junge?“ „Bitte, ich bekomme das wieder in den Griff.“ Irgendwo in der Nähe erklingt eine Autosirene, der Wind trägt die Geräusche der Straßen mit sich. „Du gehst mir gerade unglaublich auf die Nerven.“ Jeff schnaubt herablassend, dreht sich abrupt um und betritt das Gebäude. Wie ein Schatten folgt ihm der zweite Mann. Im Fahrstuhl herrscht eisiges Schweigen, während die beiden nach oben fahren. Erst als sie in seinem klinisch weißen Büro angekommen sind, wendet sich Jeff erneut nach seinem Begleiter um. „Es ist mein Fehler. Ich dachte du wärst dieser Aufgabe gewachsen, aber nicht jeder kann die Hitze aushalten.“ Er sieht dem jungen Mann tief in die Augen, der mit hängenden Schultern im blendenden Weiß des Teppichs versinkt. „Ich übergebe die Sache an Meyer. Er weiß, wie man mit diesem Geschmeiß umgeht. Du fliegst morgen früh nach Namur. Ich möchte einen genauen Bericht über die Ereignisse. Ich habe keine Lust im Dunkeln in ein Messer zu laufen. Hast du verstanden, Tom?“ „Ja, Jeff.“ Das Gespräch ist beendet. Tom verlässt mit gesenktem Kopf das Büro seines Vaters.
Ein Mund, der zu einem stummen Schrei verzerrt ist. Verzweifeltes Ringen nach einem letzten Atemzug. Dürre Arme, die sich in den unendlich weit entfernten Himmel strecken. Der Teamleiter der mobilen Einsatztruppe beugt sich über die Grube. „Der lebt noch.“ stellt er fest, schießt dem zuckenden Körper sauber in den Kopf. Ein Mann in einem olivgrünen Overall steht mit einem einsatzbereiten Flammenwerfer neben ihm. Wartet auf das Zeichen. Über ihren Köpfen kreist ein Bussard. Der Vogel sieht die dreckigen Jeeps, die in einem Halbkreis um das Massengrab geparkt sind. Sieht die Männer, die gerade eine letzte Leiche in die Grube zerren. Mehrere Körper liegen darin, verdreht, zerschossen, ausgezehrt. Über allem liegt der unbändige Geruch von Blut. Als der Flammenwerfer sein vernichtendes Feuer über die Kadaver spuckt, schlägt der Bussard zornig mit den Flügeln, lässt sich vom Wind weiter treiben.
Eine schlaflose Nacht, zwei Flugstunden und eine langweilige Taxifahrt später steht der Sohn des größten Gentechnologieherstellers Europas vor einem rundlichen Labormitarbeiter, der ihm in gebrochenem Deutsch die Situation erklärt. „Es ist also mehr als eine Spezies entkommen?“ fasst Tom zusammen, was der Mann im weißen Kittel umständlich beschrieben hat. „Oui, Monsieur Underberg, der Labor - voll.“ Tom zeigt auf eine der Tabellen, die er von zuhause mitgebracht hat. Mäuse, Kaninchen, Affen, ein halber Streichelzoo ist darauf abgebildet. „Welche Spezies?“ fragt er betont deutlich und klopft mit seinem Kugelschreiber auf das Papier. Der Mitarbeiter nimmt ihm die Tabelle aus der Hand, überfliegt sie kurz. Dann kreuzt er mehrere Bilder an und reicht den Zettel zurück. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragt eine kühle Frauenstimme hinter Tom. Der dreht sich nicht um, sondern starrt nur finster auf die Tabelle. „Mein Name ist Greta Claes, ich denke wir waren vor vierzig Minuten in meinem Büro verabredet, Herr Underberg.“ fährt die Frau mit ihrer einseitigen Unterhaltung fort. Tom wendet den Blick nicht vom Papier ab. „Ihre Berichte an die Firma waren nicht zufriedenstellend. Ich ging daher davon aus, dass auch ein Gespräch mit Ihnen nicht zufriedenstellend verlaufen würde, Frau Claes. Mein Vater wünscht eine genaue Analyse der Situation und ich versichere Ihnen, Sie möchten seinem Wunsch nicht im Wege stehen. Sie können mir jetzt das Labor zeigen, Dr. Peeters.“ Er lässt das Blatt Papier sinken und nickt dem verlegenen Labormitarbeiter zu, der das Gespräch mit angestrengtem Gesichtsausdruck verfolgt hat. Seit Greta Claes das Zimmer betreten hat, ist er fünf Zentimeter kleiner geworden. „Dr. Peeters.“ spricht Tom ihn erneut an, diesmal etwas lauter. „Bien sur.“ beeilt sich der untersetzte Mann und führt ihn unter diversen Gesten aus dem Raum. Seiner Chefin nickt er nur entschuldigend zu, während sie sich an ihr vorbei drängeln. Der Weg führt zwei Stockwerke tiefer und dann durch hell erleuchtete Gänge, die von Videokameras überwacht werden. Niemand sagt ein Wort, auch nicht wenn sie eine der unzähligen Sicherheitsschleusen passieren. Nur das klacken der Schuhe begleitet sie durch die schier endlosen Flure. Als Dr. Peeters schließlich vor einer Tür stehenbleibt, wendet sich Tom direkt an Frau Claes. „Aufmachen.“ blafft er sie an. Die adrett gekleidete Frau erwidert seine Herausforderung mit eiskaltem Blick. Achselzuckend tippt sie einen Code in die kleine Wandtafel neben der Tür. Ein leiser Piepton erklingt. Tom verschränkt abwartend die Arme vor dem Bauch. Greta Claes nickt ihrem Angestellten zu, der daraufhin die Tür öffnet. Der enorme Raum dahinter ist nur zur Hälfte vorhanden. Die andere Hälfte liegt in Schutt und Asche. Durchsichtige Folien spannen sich gegen einen blauen Himmel, Wind bläst durch Ritzen in der provisorischen Abdeckung. „Was, zum Teufel, ist hier passiert?“ fragt Tom und betritt das ehemalige Großlabor. Er starrt gebannt auf das klaffende Loch in der Außenmauer. „Eine Gasexplosion ist passiert.“ antwortet Greta Claes trocken. „Ich habe Ihnen den Unfallhergang ausführlich in meinem Bericht geschildert.“ „Ja, ja. Schon gut.“ wehrt Tom ungeduldig ab. Er betrachtet die großen, zerstörten Käfige. „Wie viele sind entkommen?“ fragt er schließlich, steht dabei inmitten der Zerstörung. „Auch das steht in meinem Bericht, Herr Underberg.“ ihre Stimme ist ein einziger Vorwurf. „Frau Claes. In Ihrem Bericht haben Sie von einem kleinen Zwischenfall geschrieben, bei dem einige, wenige Versuchsobjekte Ihren Räumlichkeiten entwichen sind. Jetzt stehe ich hier vor einem riesigen Loch in Ihrem Labor und habe eben erfahren, dass es sich bei den Versuchsobjekten um verschiedenste, hochmobile Spezies handelt. Ich frage Sie also noch einmal. Wie viele 'Versuchsobjekte' sind hier entwichen?“ Toms ätzender Tonfall zeigt langsam Wirkung. „Zweiundzwanzig.“ Greta Claes spuckt ihm die Antwort förmlich vor die Füße. „Zehn Hasen-, fünf Ratten-, drei Hunde-, zwei Schimpansen-, zwei Schweinehybriden.“ „Warum waren diese Hybriden alle in einem Raum?“ bohrt Tom aggressiv weiter. „Sie sollten am nächsten Morgen abgetötet werden, die Versuchsreihe war abgeschlossen.“ „Welche Versuche wurden an den Viechern durchgeführt?“ „Herr Underberg, wollen wir dieses Gespräch nicht lieber in meinem Büro fortsetzen, ich denke Dr. Peeters würde nun gerne wieder seiner Arbeit nachgehen?“ Mit einer knappen Geste schickt sie ihren Mitarbeiter aus dem Raum. Tom wiegelt ungeduldig ab. „Was wir zu bereden haben, können wir überall klären. Also, welche Versuche?“ Bevor Greta Claes antwortet, schließt sie gewissenhaft die Tür des zerstörten Labors.
Laufen. Immer nur Laufen. Das Herz pocht bis zum Hals, die nackten Füße bluten und immer weiter Laufen. Irgendwann brechen die Beine unter ihr zusammen, sie fällt der Länge nach hin. Muss es in den Wald schaffen. Zwingt sich wieder hoch. Läuft weiter. Gehetzter Atem, Schweiß auf der Haut. Als sie das Geräusch eines Helikopters hört, flüchtet sie unter einen niedrigen Busch. Kauert unter den grünen Zweigen und bedeckt ihren geschorenen Kopf mit blassen Armen. Das Wummern des Rotors vermischt sich mit einem rasenden Herzschlag. Tränen laufen aus geröteten Augen. Die Eindrücke der letzten Tage fluten unkontrolliert über sie herein. Wütend schüttelt sie die Bilder ab, stößt ein kehliges Wimmern aus. Wartet darauf, dass das dröhnende Geräusch der Maschine leiser wird. Als das Brummen verebbt, kriecht sie wieder aus dem Gebüsch und hastet weiter. Über die Böschung, quer durch den Bach. Steine bohren sich in ihre Fußsohlen. Äste peitschen über nackte Haut. Ein Schuss zerreißt die Szenerie in tausend Splitter. Grellrotes Blut schießt aus ihrem Mund. Sie taumelt gegen eine junge Buche, ein faustgroßes Loch klafft in ihrem Brustkorb. Tot bricht sie am Rand des Laubwaldes zusammen.
„Möchten Sie Milch und Zucker?“ Tom Underberg und Greta Claes sitzen sich in einem konservativ eingerichteten Büro gegenüber. Eine unscheinbare Sekretärin trägt Kaffee und Gebäck auf. „Schwarz, danke.“ antwortet Tom, seine Stimme klingt ungeduldig. Die Sekretärin serviert und verschwindet dann aus dem Büro. Stille breitet sich aus, nur unterbrochen vom diskreten Klappern guten Porzellans. Vor dem Fenster ziehen vereinzelte Wolken über einen stahlblauen Himmel. Kaffeeduft erfüllt das Zimmer. „Herr Underberg,“ nimmt Greta Claes schließlich wieder das Gespräch auf, „Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Lage unter Kontrolle haben. Unsere Teams sind absolut zuverlässig.“ „Zweiundzwanzig.“ kontert Tom nur. Er balanciert einen Teller mit kleinen Plunderteilchen auf seinen Knien. Nimmt immer abwechselnd einen Schluck Kaffee und einen Bissen Süßgebäck. Greta Claes beobachtet ihn mit unverhohlener Abscheu. „Zehn Objekte konnten bereits sichergestellt werden. Wir sprechen also von Zwölf.“ „Wer ist übrig?“ „Fünf Hasen, fünf Ratten, zwei Schweine. Die Hunde und Schimpansen konnten wir bereits am zweiten Tag sicherstellen, sie waren gemeinsam in einer Scheune versteckt. Auch einen Teil der Hasen konnten wir als Gruppe auftreiben. Die restlichen Objekte halten sich vermutlich nicht in Gruppen auf, das macht die Sache schwieriger.“ „Ich will eine exakte Aufstellung der bisherigen Abläufe. Mi-Nu-Ti-Ös.“ Er klopft bei jeder Silbe mit seiner Tasse gegen den Teller auf seinen Knien. Kleine Plunderstückchen fliegen aus seinem Mund. „Ich will die aktuellen Reporte der Einsatzteams und ich will eine exakte Aufstellung der Hybride und mit welchen Gefahren wir zu rechnen haben. Und ich will das alles gestern, haben Sie mich verstanden?“ Greta Claes nickt zähneknirschend, lässt ein gekünsteltes Lächeln aufblitzen.
Rabenschwarze Nacht. Kälte. Nässe. Einsamkeit. Nirgendwo ein Punkt zur Orientierung. Nur zermatschtes Laub an den Füßen, Schwärze vor den Augen und bohrende Verzweiflung. Ein paar abgebrochenen Zweige, die als Schutz gegen den Regen dienen. Er hockt in einer feuchten Kuhle, den Rücken gegen einen Stein gepresst. Versucht sich in den Schlaf zu zittern. Hat keine Kraft mehr. Der ferne Ruf eines Käuzchens lässt ihn auffahren. Die blutunterlaufenen Augen irren in der Dunkelheit hin und her. Der nächste Ruf des Käuzchens klingt näher. Gehetzt kommt er wieder auf die Füße. Hält sich an Zweigen fest, während er schwer atmend durch die Finsternis torkelt. Er kann nicht mehr weiter. Muss immer weiter. Rutscht im glitschigen Laub. Fällt einen steilen Abhang hinunter und schlägt auf spitzen Steinen auf. Das Scheinwerferlicht eines heranrasenden Zuges blendet ihn. Mit blutigen Händen, blutigen Knien windet er sich zwischen den Schienen. Blind. Verängstigt. Allein. Als der Zug ihn wenige Sekunden später erfasst, bleibt nur ein blutiger Streifen auf den Gleisen zurück.
„Diese Frau ist so unfähig, dass man sich die Haare raufen möchte.“ Tom sitzt auf der Toilette, telefoniert mit seinem Vater. „Dasselbe könnte ich auch über dich sagen.“ erklingt Jeffs Stimme lieblos aus dem Handy. Tom verliert den Faden, das Gespräch gerät ins Stocken. „Wie ist die aktuelle Lage?“ fragt Jeff schließlich ungehalten. „Wir haben zwei weitere Versuchsobjekte bergen können. Damit sind es nur noch zehn.“ beeilt sich Tom zu antworten. Das überlegene Gefühl, dass er zu Beginn des Gespräches hatte, ist verflogen. „Wer ist wir?“ Jeff hat ausgesprochen schlechte Laune. Tom verdreht resigniert die Augen. Stellt auf Lautsprecher, um sich den Hintern abzuwischen. „Es bleiben nur noch fünf Ratten und fünf Hasen übrig. Wobei wir uns um die Ratten kaum Gedanken machen müssen. Claes versichert, dass sie bald eingehen werden.“ „Aha.“ macht Jeff. „Hat irgendwas mit einem fehlenden Enzym zu tun. Steht im Bericht.“ Tom betätigt die Spülung, zieht sich wieder an. Er verzichtet darauf, sich die Hände zu waschen, drückt das Handy wieder an sein Ohr. Bleibt nachdenklich vor dem Spiegel stehen. „Es sind also eigentlich nur noch die fünf Hasen, um die wir uns kümmern müssen.“ Auf der anderen Seite der Leitung bleibt es still. „Gibt es etwas Neues von Kahrbauer?“ fragt Tom und hofft, mit der Erwähnung des Journalisten das Gespräch wieder für sich zu gewinnen. „Was interessiert dich das?“ fragt Jeff gereizt zurück. Tom starrt sich selbst in die Augen, zeigt seinem Spiegelbild den Mittelfinger. „Ist noch was?“ quäkt es aus dem Handy. „Nein, Jeff.“ „Dann bis morgen.“ Das Gespräch ist beendet. Tom atmet langsam durch die Nase ein, durch den Mund wieder aus. Wählt eine neue Nummer. „Underberg hier. Verbinden Sie mich mit Frau Claes.“ Er wartet, dass die Sekretärin das Gespräch herstellt, korrigiert ein paar Haarsträhnen an seiner Frisur. „Was kann ich für Sie tun, Herr Underberg?“ Greta Claes versucht nicht zu verschleiern, dass der Anruf unwillkommen ist. Ihre Stimme klingt abweisend und kalt. „Mein Vater ist sehr unzufrieden, Frau Claes.“ Tom tritt näher an den Spiegel heran, betrachtet eingehend sein junges Gesicht. „Er wird es sich vorbehalten, entsprechende Schritte in der Personalpolitik einzuleiten.“ „Dazu ist er absolut berechtigt.“ „Ich möchte Morgen beim Einsatz dabei sein.“ Tom fährt mit dem Zeigefinger über seine glatte Stirn. Lächelt seinem Spiegelbild zu. Das Lächeln, das zurückgeworfen wird, ist hohl und nichtssagend. „Dazu sind Sie absolut berechtigt.“ Greta Claes scheint sich auf einen Satz festgelegt zu haben. „Mailen Sie mir die genauen Daten. Ich werde vor Ort sein.“ „Gerne.“ Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden.
Ständiges Erbrechen, obwohl der Magen völlig leer ist. Quälendes Husten. Brennende Schmerzen. Dunkle Flüssigkeit läuft aus den Ohren, die Augen liegen eingefallen in dunklen Höhlen. Die Kinder liegen eng umschlugen im Keller eines Hauses. Haben sich in der Nacht eingeschlichen. Unter alten Armeedecken vergraben. Jetzt warten sie darauf, dass die Schmerzen endlich aufhören. Liegen schlaff übereinander. Atmen hechelnd. Von oben erklingt helles Lachen. Tapsige Schritte laufen durch ein glücklicheres Leben. Irgendwo spielt ein Liebeslied im Radio. Unten ist nur noch flaches Atmen und unregelmäßiger Herzschlag. Trockenes Würgen. Eine letzte Träne, die aus einem verkrusteten Augenwinkel läuft. Irgendwann hört auch der letzte, kleine Brustkorb auf, sich zu bewegen.
Der Jeep rast mit aufheulendem Motor über eine Schotterpiste. Hinter dem Steuer grinst Tom wie ein kleiner Schuljunge. Der Einsatzleiter, der neben ihm sitzt, ist sichtlich unbeeindruckt. „Wir haben heute morgen die ganze Rattenbande ausgehoben. Dachten erst, sie hätten sich aufgeteilt. Hatten aber nur falsche Fährten gelegt. Schlaue Biester, diese Biester!“ schreit er gegen den Fahrtwind an. Tom lacht und gibt noch einmal richtig Gas. Im Rückspiegel sieht man die anderen Jeeps in einiger Entfernung folgen. „Die Meldung kommt von einem Bauernhof, drüben in Ciney. Ich hätte nicht gedacht, dass die so weit kommen würden.“ „Haben Sie eine Idee, wo die hinwollen?“ Tom geht ein wenig vom Gas, konzentriert sich mehr auf das Gespräch. „Die zieht es in die Wälder.“ antwortet sein Begleiter. „Keine Ahnung ob die glauben, dass sie sich da besser verstecken können oder ob es so eine Art animalischer Instinkt ist. Was weiß ich.“ „Wie viele Hasen wurden gesichtet?“ „Vier oder fünf.“ „Haben die auch falsche Fährten gelegt?“ „Wer weiß das schon. Sie können sie ja fragen, wenn wir sie gefunden haben.“ Der Einsatzleiter lacht und klopft Tom väterlich auf die Schulter. Die restliche Fahrt erzählt er witzige Erlebnisse aus seinen früheren Tagen beim Militär. Tom genießt jede einzelne Sekunde davon. Kurz vor Ciney halten die Wagen am Seitenstreifen der Landstraße. Die Männer koordinieren sich routiniert, während Tom so tut, als würde er dazu gehören. Er wird einem jungen Mann zugeteilt, der sich als Dubois vorstellt. Die beiden bilden das Schlusslicht des Trupps, der sich nun wieder in Bewegung setzt. Vor einem Bauernhaus halten sie erneut. Der Einsatzleiter steigt aus, unterhält sich mit dem Bauern, der bereits vor die Tür getreten ist. Tom kann das Gespräch nicht verstehen, sieht aber, dass der Bauer in eine bestimmt Richtung deutet. Der Einsatzleiter dankt ihm, Geld wird übergeben. Dann fahren die Wagen in die angegebene Richtung. Man hält nun über Funk Kontakt, spricht sich mit dem Hubschrauberteam ab. Tom verfolgt alles mit stiller Faszination. Als der Hubschrauber schließlich eine Sichtung meldet, entfährt ihm ein aufgeregter Schrei. „Fahr, Fahr, Fahr!“ feuert er Dubois an. Der Jeep schießt einen Forstweg hinunter, folgt der Staubspur der anderen Wagen.
Die vier Frauen rennen panisch in verschiedene Richtungen davon, als die Jeeps am Rand der Lichtung auftauchen. Sie haben den Motorenlärm nicht wahrgenommen, waren zu erschöpft von der tagelangen Flucht. Nur ein wenig Schlaf. Nur ein bisschen im Sonnenschein liegen. Jetzt laufen sie ein letztes Mal um ihr Leben. Die Jeeps teilen sich ebenfalls auf, lassen sich vom Helikopter leiten. Schüsse krachen durch den lichten Wald. Getroffen fällt eine rennende Gestalt zu Boden, überschlägt sich, bleibt liegen. Eine andere krümmt sich, hastet dann aber weiter. Dubois schneidet ihr den Weg ab. Rammt sie mit dem Wagen. Der geschundene, magere Frauenkörper schlägt mit einem dumpfen Knall gegen das Blech des Jeeps. Tom zuckt zusammen, als er das Geräusch hört. Hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Dubois hält den Wagen an, steigt aus. „Kommen Sie, Monsieur Underberg!“ Unwillig kletter Tom aus dem Jeep. Geht um den Wagen herum und sieht sich das blutende Wesen an, dass verdreht auf dem Waldboden liegt. „Das ist eine Frau!“ entfährt es ihm entsetzt. „Möchten Sie sie erschießen, Monsieur Underberg?“ fragt Dubois und hält ihm grinsend eine Pistole hin. Tom wird sehr blass, greift aber schließlich nach der Waffe. Die Frau auf dem Boden schluchzt in unregelmäßigen Abständen. Trotz unzähliger Knochenbrüche versucht sie immer noch, durch das Laub davon zu kriechen. Weg von den beiden Männern, die breitbeinig über ihr stehen. Tom zielt mit der Pistole. Seine Hand zittert. Der erste Schuss geht in ihren Oberschenkel. Der zweite trifft den Rücken. Beim dritten Mal schießt er einen Meter daneben, das vierte Mal zerfetzt ihr Gesicht, als sie sich wimmernd nach den Männern umdreht. „Wow, Monsieur Underberg, nicht schlecht!“ lacht Dubois und nimmt Tom die Waffe aus den verkrampften Fingern. „Ich dachte ja erst, Sie kacken sich ein, aber das war eine saubere Nummer.“ Aufmunternd deutet er mit der Waffe quer über die Lichtung. Ein blasser Körper verschwindet gerade hinter einem umgestürzten Baumstamm. „Da ist noch eine, holen wir sie uns!“ Tom folgt Dubois, als dieser mit schnellen Schritten die Lichtung überquert.
„Auf unser neues Ehrenmitglied, er lebe hoch! Hoch! Hoch!“ Ausgelassenes Gelächter brandet durch den Schankraum. Weingläser prosten ihm zu, Schnäpse werden geleert. Tom steht inmitten der Aufmerksamkeit, sein wächsernes Lächeln überstrahlt den Raum. Er stürzt sein Glas Rotwein hinunter, lässt sich sofort neu einschenken. Hinter seiner Stirn explodiert ein verzweifeltes Gesicht in tausend Knochensplitter. „Auch auf euch, meine tapferen Kameraden!“ Seine Stimme klingt etwas schrill. Es war ein langer Tag. Tom kann immer noch das Blut auf seiner Kleidung riechen. Nachdem er noch ein paar weitere Gläser Wein geleert, mit noch ein paar Schnäpsen angestoßen hat, geht er nach draußen, um seine E-Smoke zu rauchen. „Eine noch, eine noch, eine noch!“ schreit es hinter ihm her und Tom weiß nicht, ob sie noch ein Glas, oder noch eine Leiche meinen. Betrunken fummelt er das Handy aus der Jackentasche. Ruft seien Vater an. „Es ist nach elf, was zur Hölle willst du?“ fährt Jeff ihn verschlafen an. „Ich habe sie erschossen!“ lallt Tom ins Handy. Erneut sieht er die geschundene Gestalt auf der Lichtung liegen. Das rote Blut im grünen Gras. „Was hast du?“ „Ersch-sch-sch-schossen!“ schreit Tom. Lacht schallend. Eine blutverschmierte Hand, Glockenblumen, die sich im Wind wiegen. „Bist du besoffen, Junge?“ jetzt schreit auch Jeff. „Natürlich bin ich besoffen, du Arschloch. Ich habe sie erschossen!“ Tom lacht wieder. Tränen laufen über sein gerötetes Gesicht. Dann kotzt er vor die Tür der Schänke. „Tom? Tom!“ „Es sind Menschen, Vater. Wusstest du das?“ Ein langer Rotzfaden hängt aus seiner Nase. Geräuschvoll zieht er ihn nach oben. „Und ich habe sie abgeknallt.“ Er wirft das Handy gegen die Hausmauer, schreit seinen Frust in die Nacht hinaus. Kotzt sich die Seele aus dem Leib.
„Kahrbauer?“ „Sind Sie Herr Kahrbauer?“ „Das habe ich doch gerade gesagt, oder?“ Der Journalist ist kurz davor, den Hörer wieder aufzulegen. Dumme Telefonstreiche mit verzerrter Stimme gab es in den letzten Monaten genug. „Ich habe Informationen für Sie. Es geht um Namur.“ Nur ein Wort und schon hat der Anrufer die ungeteilte Aufmerksamkeit des Reporters. „Ich höre zu.“ „Die haben Versuche mit Menschen gemacht. Die haben Menschen mit Tieren gekreuzt. Und dann haben sie sie abgeschlachtet. Die haben einundzwanzig Menschen abgeschossen!“ Trotz des Verzerrers klingt die Stimme am anderen Ende des Telefons verzweifelt. Kahrbauer kann ein Schluchzen hören. „Haben Sie dafür irgendwelche Beweise?“stellt er die einzige Frage, die wirklich von Belang ist. „Ich habe alle Beweise, die sie sich nur wünschen können. Aber zuerst müssen wir sie retten!“ „Wen retten?“ fragt Kahrbauer und winkt ungeduldig seine Frau fort, die ihm gerade eine Tasse Tee ins Arbeitszimmer bringen möchte. „Es sind Zweiundzwanzig entkommen. Einundzwanzig haben sie vernichtet. Eine lebt noch. Sie müssen sie finden!“ „Wie stellen Sie sich das vor?“ Kahrbauer weiß immer noch nicht genau, was er von seinem Gegenüber halten soll. „Keine Ahnung. Ich habe doch keine Ahnung. Es ist einfach nur nicht richtig.“ „Können wir uns treffen?“ schlägt Kahrbauer vor. „Nein!“ Die verzerrte Stimme überschlägt sich. „Dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen soll.“ Kahrbauer wartet geduldig, dass der Anrufer den Köder schnappt. „Okay, ein Treffen.“ willigt der schließlich ein. „Kann ich Sie unter dieser Nummer zurückrufen?“ Kahrbauer hat längst die übermittelte Handynummer notiert. „Oh, Scheiße.“ Kahrbauer lächelt. „Wie darf ich Sie ansprechen?“ Es ist lange still am anderen Ende der Leitung. Man kann förmlich fühlen, wie jemand mit einer Entscheidung ringt. „Nennen Sie mich Tom.“ antwortet die verzerrte Stimme.
© sybille lengauer
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