Bunkeranlage C

 

Bunkeranlage C

 

 

 

Es ist Frühling in der weitläufigen Gartensphäre der Bunkeranlage C. Sieben Kinder laufen durch das hohe Gras, jagen sich gegenseitig im wuchernden Grün. Ein Mädchen springt leichtfüßig über einen kristallklaren Bach, der sich durch die Wiese schlängelt. Ihr himmelblaues Kleid flattert dabei wild um ihre Beine, spiegelt die Farbe des Himmels. Sie verschwindet lachend zwischen blühenden Apfelbäumen, die auf dieser Seite des Ufers dicht zusammenstehen. Ein anderes Mädchen springt mit spitzem Schrei hinterher und folgt ihr in den Apfelhain. Als sie in das Blütenmeer eintaucht, sieht sie einen blauen Stoffzipfel zwischen den Baumstämmen verschwinden. „Ich kriege dich, Ca-Ga!“ ruft sie triumphierend und nimmt die Verfolgung auf. „Ha!“ macht das Mädchen im himmelblauen Kleid nur und taucht flink zwischen den Bäumen hindurch. Sie läuft im engen Bogen zurück zum Bach und zu den Kindern, die sich am anderen Ufer fröhlich mit Wasser bespritzen. Ein rothaariger Junge wirft ihr lachend einen goldenen Ball zu. Ca-Ga fängt ihn locker aus der Luft. „Boot!“ schreit sie und bleibt stehen. „Das gilt nicht!“ ruft ihre Verfolgerin, die mit hochroten Wangen zwischen den Apfelbäumen hervorschießt. Blütenfetzen hängen in ihren hellblonden Haaren. „Gilt wohl.“ lacht Ca-Ga und tätschelt zufrieden den Ball. „Ca-Ba gibt dir immer das Boot.“ schimpft das blonde Mädchen und rupft sich Apfelblüten aus der zerzausten Frisur. „Das stimmt überhaupt nicht!“ Ca-Ga reißt ihre braunen Augen auf, sie streckt die Zunge heraus und macht „Bäh-hä.“ „Stimmt wohl, ihr seid ein Liebespaar!“ ätzt das blonde Mädchen und stapft durch die Wiese auf Ca-Ga zu. „Du bist eine hässliche Lügnerin, Ca-Da!“ ruft der Junge erbost von der anderen Seite des Baches. Die anderen Kinder lachen. „Und du bist eine dreckige Mistgeburt.“ kontert die mit blitzenden Augen. „Es heißt Missgeburt, du ekliger Pickel!“ mischt sich Ca-Ga wieder in den Streit ein. „Selber Pickel!“ Ca-Da stürzt sich mit einem grellen Schrei auf Ca-Ga, die Mädchen stolpern im rutschigen Gras und fallen platschend in den Bach. Es spritzt gewaltig, die Kinder schreien hysterisch. Prustend liegen sie im eiskalten Wasser. „C-Einheit!“ ruft eine strenge Stimme und die Auseinandersetzung endet abrupt. Die Mädchen erstarren im Bach, die anderen Kinder senken betreten die Köpfe. Eine Arbeiterin rollt zornig über die Wiese. Ihr runder, silbrig glänzender Körper gleitet sirrend über das sattgrüne Gras. „Euer fernbleiben vom Unterricht wird missbilligt.“ schimpft die Arbeiterin. Ihr Augenschlitz leuchtet ungehalten. „Tut uns leid.“ sagt Ca-Ga und klettert mit zerknirschtem Gesichtsausdruck aus dem Bach. Sie hilft Ca-Da aus dem Wasser, gemeinsam waten die beiden ans Ufer und stellen sich tropfnass zu den anderen Kindern. Der goldene Ball bleibt in der Wiese zurück. „Ihr sollt nicht meinen, dass es mit einer Entschuldigung getan wäre. Der Schwarm vergisst nicht.“ versetzt die Arbeiterin und rollt zum Ausgang. Die Kinder folgen ihr mit langen Gesichtern. Am Tor schalten sich die holografischen Verstärker ab, mit denen die Erscheinung der Gartensphäre unterstützt wird. Der Garten verliert seine üppige Vielfalt, gleicht jetzt mehr einem unterirdischen Gewächshaus, als einem wuchernden Paradies. Der strahlend blaue Himmel weicht hellgrau gekachelten Wänden, der Bach wird zu einem träg dahinfließenden Bewässerungskanal. Der dichte Apfelhain besteht nur aus dürren Bäumchen in Pflanzkübeln, die kaum Blüten tragen. Das hohe Gras der Wiese schrumpft zu einfachem Rollrasen zusammen, in dem ein gelber Gummiball liegt. Ca-Ga blickt kurz zurück und schüttelt bedauernd den Kopf. Dann trottet sie hinter den anderen Kindern her, die der Arbeiterin zum Unterrichts-Segment folgen.

 

Es mag euch vielleicht unbegreiflich erscheinen, doch meine Lehren haben einen größeren Wert für eure Zukunft als die kindlichen Spiele, die ihr in den Sphären spielt.“ Der ehrwürdige Meister schwebt ungehalten im Klassenzimmer auf und ab. Sein tonnenförmiger Leib dreht sich langsam um die eigene Achse, während er die sieben Kinder durch sein rotes Okular mustert. „Es zeugt von Unreife und Respektlosigkeit gegenüber dem Schwarm, dem Unterricht unerlaubt fernzubleiben.“ Die Kinder sitzen still an ihren Pulten und starren betreten auf ihre leeren Bildschirme. Ca-Ga und Ca-Da haben trockene Kleider an, sie sitzen heute besonders weit auseinander und beachten sich möglichst offensichtlich nicht. „Die Mathematikstunde, die ihr durch euer Schwänzen versäumt habt, werdet ihr heute Nachmittag in einer Doppelstunde nachholen. Der Freizeitaufenthalt in der Wassersphäre entfällt.“ Der Meister ignoriert das leise Stöhnen der Kinder und schwebt in die Mitte des Raumes. Er aktiviert seinen Projektor und wirft ein bewegtes Bild an die glatte Betonwand. Die Kinder stöhnen lauter. „Eurer Reaktion entnehme ich, dass ihr bereits alles über den Beginn des vierten Vernichtungskrieges wisst. Vielleicht möchte also jemand von euch erzählen, was vor fast sechzig Jahren in Europa geschehen ist? Du vielleicht, Ca-Aa?“ Der angesprochene Junge reißt erschrocken die Augen auf. „Die...ich...der...“ stottert er, dann bricht er ab. Seine Ohren verfärben sich dunkelrosa, er zuckt ratlos mit den Schultern und blickt betreten auf seinen leeren Bildschirm. Ca-Da meldet sich eifrig zu Wort. Der ehrwürdige Meister blinkt ihr auffordernd zu und Ca-Da holt tief Luft: „Während der drei großen Vernichtungskriege, die auf die Machtergreifung der XingFu-Corporation in China folgten, schlossen sich die unabhängigen Firmen Europas zu einer vereinten Großmacht zusammen. Der UnitedEurope, kurz UE. Zwischen den Jahren 2143 und 2146 gelang es der UE, den globalen Markteinfluss der XingFu-Corporation massiv zu schwächen, indem man gezielt Schadsoftware in die empfindlichen KI-Systeme der chinesischen Produktionsanlagen einschleuste. Die Verlustzahlen unter der europäischen Bevölkerung waren aufgrund dieser veränderten Kriegsstrategie äußerst gering, was die Akzeptanz in der Arbeiterschaft stärkte und den Machtanspruch Europas stützte. Jedoch gelang es einer Gruppe von chinesischen Spionen...“ „Danke, das genügt.“ würgt der ehrwürdige Meister Ca-Das monotonen Vortrag ab. Ca-Ga kichert gehässig. „Kann mir jemand etwas über den Beginn des vierten Vernichtungskriegs erzählen, ohne dabei vom Bildschirm abhängig zu sein?“ fragt der Meister gereizt. „Ich habe nicht abgelesen!“ wehrt sich Ca-Da empört. „Nein, du hast den Text auswendig gelernt. Das ist nicht besser.“ versetzt der Meister. „Aber...“ hebt Ca-Da an, sich weiter zu verteidigen. „Nichts aber.“ Der Meister schwebt zu ihrem Pult und betrachtet sie streng durch sein rotes Okular. „Es hat keinen Mehrwert, einfach nur Daten in dein Gehirn zu stopfen, Kind. Du kennst die Zahlen und Fakten, aber du begreifst nicht die Sensibilität der Ereignisse, die zur Entstehung der Schwarm-KI... Ca-Ga, was amüsiert dich so sehr?“ Der ehrwürdige Meister spricht überdeutlich und gedehnt, drohend wendet er sich dem kichernden Mädchen zu. Ca-Ga errötet, der hämische Ausdruck verschwindet schlagartig aus ihrem hübschen Gesicht. „Nichts, Ehrwürdiger.“ murmelt sie verlegen und senkt den Kopf. „Dein Verhalten wird registriert.“ versetzt der Meister, sein rotes Okular ruht streng auf dem unordentlichen Scheitel ihrer geflochtenen Frisur. In der unangenehmen Stille, die sich im Klassenzimmer ausbreitet, verrinnen zähflüssige Sekunden. „Nun, wo waren wir?“ fragt der Meister schließlich ungehalten und schwebt zurück in die Mitte des Raumes. Ein Mädchen aus der hinteren Reihe meldet sich. „Ja, Ca-Ea?“ „Die Anschläge vom ersten Mai 2147, Ehrwürdiger. Die Auslöschung Europas.“ „Sehr gut, Ca-Ea.“ brummt der Meister. Er blinkt zufrieden und wirft ein neues, bewegtes Bild an die porenlose Betonwand.

 

Der Vormittag vergeht zäh, der Unterricht will nicht enden. Die Kinder quälen sich durch die Stunden, sie hören Beispiele ausgestorbener Weltsprachen, notieren Stichworte über die klassische KI der vergangenen Jahrhundertwende und zeichnen einen vereinfachten Aufbau der Bunkeranlage C auf ihren Bildschirmen nach. Die gigantische Ausdehnung der unterirdischen Anlage bildet eine Struktur, die sich scheinbar chaotisch in verschiedenste Richtungen verzweigt. Ein Gewirr aus Gängen führt zu den unterschiedlichen Bereichen des enormen Bunkers, die verschiedenartige Funktionen erfüllen. Die Kinder des Schwarms arbeiten sich konzentriert durch die unterschiedlichen Sektionen und ihre Bedeutungen, malen Wege in bunten Farben aus und üben die Orientierung. In der Mittagspause werden sie von einer neuen Arbeiterin abgeholt. Die sirrende Maschine bringt sie allerdings nicht, wie von ihnen erwartet, in die kleine Mensa neben dem Unterrichts-Segment, sondern führt die Kinder zurück zur Gartensphäre. „C-Einheit. Euer Spiel hat Schäden verursacht. Behebt sie.“ lautet ihre knappe Anweisung, bevor sie sich umdreht und durch das Tor verschwindet. Die Kinder trotten ergeben durch die Sphäre und machen sich mit knurrenden Mägen daran, die Unordnung aufzuräumen. Kaum sind sie fertig, bringt eine andere Arbeiterin sie zurück zum Unterrichts-Segment und schon beginnt die angekündigte Doppelstunde Mathematik und eine Menge Hausaufgaben. Ein Helfer des ehrwürdigen Meisters schwebt wachend über den Kindern, die hungrig und gereizt vor ihren Bildschirmen hocken und schmollen. Ca-Da wühlt erschöpft durch ihr blondes Haar und seufzt tief. Sie sieht zu Ca-Ga hinüber, die gerade erfolglos versucht ein Gähnen zu unterdrücken. Heimlich streckt sie ihr die Zunge heraus, doch es liegt kein Elan in der Geste, seufzend wendet sie sich wieder ihrem Bildschirm zu. Die Minuten vergehen zäh, die Hausaufgaben werden nicht weniger, wenn man sie nur ausgehungert anstarrt. Nach einer gefühlten Ewigkeit bringt eine Arbeiterin schließlich Erlösung, sie geleitet die erschöpften Kinder zu einem späten Essen in die Mensa. Gierig saugen sie dort herrlich süßen Brei aus den weichen Latex-Zitzen der pulsierenden Nährmaschine, die mit ihrer stattlichen Größe den ovalen Raum beinahe ausfüllt. Zwei Hegerinnen gleiten zwischen den schmatzenden Kindern umher und streicheln mit ihren weichen, rosafarbenen Tentakeln über die kleinen Körper. Es ist ein altes Ritual, Berührung stärkt Zusammenhalt. Satt und müde schlurfen die sieben Kinder nach dem Essen zurück in den Unterrichtsraum, doch sie haben sichtlich Mühe, sich auf ihre unfertigen Hausaufgaben zu konzentrieren. Ca-Da kommt nicht über den ersten Satz ihres Referats hinaus und malt gelangweilt Apfelblüten an den Rand des Bildschirms. In ihrem Rücken tuscheln Ca-Ba und Ca-Fa leise miteinander, bis der Helfer sie piepend zur Ruhe auffordert.

 

Mit Beginn der Abendstunde schlurfen die Kinder auf direktem Weg zur Schlafsphäre. Niemandem steht der Sinn nach einem Abenteuer, niemand lacht mehr oder schneidet Grimassen. Ca-Da und Ca-Ga trotten friedlich nebeneinander her, die Müdigkeit hat ihren Groll vertrieben. Ca-Ga gähnt unentwegt, bis ihre Augen tränen, Ca-Da schlurft mit den Fersen über den Boden und stößt unentwegt tiefe Seufzer aus. In der anheimelnden Düsternis der Schlafsphäre schlüpfen die Mädchen schnell aus ihrer Kleidung und klettern, zusammen mit den anderen, in die vertraut duftende Wärme ihrer Nachtmutter. Doch der schrille Befehlston einer Arbeiterin lässt sie innehalten. „C-Einheit! Habt ihr nicht etwas vergessen?“ Die Kinder nicken wissend und schlüpfen zurück auf den kalten Boden der Sphäre. Sie knien nieder und beginnen ein kleines Gebet zu sprechen: „Lieber Schwarm, ich bin noch klein, kann so vieles nicht allein. Drum lass Maschinen sein auf Erden, die mir helfen, groß zu werden. Die mich nähren, die mich kleiden, die mich führen, die mich leiten. Ich bitte euch für diese Nacht, dass ihr mich im Schlaf bewacht. Dass kein böser Mensch mich weckt, und das Dunkle mich nicht schreckt. Amen.“ „Sehr gut.“ sagt die Arbeiterin, sie beobachtet zufrieden, wie sich die Kinder erneut in der flauschigen Nachtmutter einkuscheln. Dann gleitet sie zum Ausgang und aktiviert die holografischen Verstärker, die einen glitzernden Sternenhimmel an die hellgrau gekachelte Decke der Schlafsphäre projizieren.

 

 

 

© sybille lengauer

 

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