Es ist nie still im nächtlichen Sommerwald. Emsige Lebewesen knistern im dichten Unterholz, Wind flüstert in den Wipfeln der Bäume. Fledermäuse sirren durch die Dunkelheit, jagen geisterbleichen Motten hinterher. Ein Waldkauz jammert klagend. In einem Tümpel rufen Frösche sehnsüchtig zur Balz auf. Über den rauschenden Baumkronen spannt sich der grenzenlose Himmel, bauschige Wolken durchziehen seine samtblaue Weite. Funkelnde Sterne treten gegen einen sichelförmigen Mond an, der ein sardonisches Lächeln in die Nacht reißt. Clemens fühlt sich einsam inmitten der Fülle. Er hört nicht den Nachtgesang der Frösche, hört nur die Stille in seinem Herzen. Er sieht nicht, wie das Licht des Mondes durch die Bäume schimmert, sieht nur das Ende seines Weges, an einem glatten Buchenast. Clemens erhängt sich. Zumindest ist das seine Absicht. Bisher hat er es vom Waldparkplatz bis zur kräftigen Buche geschafft, die er ausgesucht hat.
„An diesem Ast könnte man sich prima aufhängen.“ dachte er vor drei Monaten, als sein Bruder ihn schwatzend durch das Naturschutzgebiet schleifte. Die jungen Blätter des Baumes hatten in der Frühlingssonne beinah neongrün geleuchtet und Clemens war kurz stehengeblieben, hatte sich vorgestellt, wie er friedlich unter dem hellgrünen Blätterdach im Wind schaukelte. Der Gedanke wirkte beruhigend auf ihn. Es fiel Clemens leichter, den Schwall der Worte zu ertragen, den sein Bruder über ihm ausgoss. Es fiel Clemens leichter, den sinnlosen Spaziergang zu ertragen. Die Fahrt zurück im stickigen Auto und auch den nächsten Tag, mit all seinen Hindernissen. Und so blieb der Gedanke. Lungerte in seinem Gehirn, weckte ihn manchmal auf, wenn er abends vor dem Fernseher einschlief und zeigte ihm das Bild seiner schaukelnden Leiche. Clemens ist schon lange schwer depressiv. Bisher fehlte ihm der Antrieb, um sich das Leben zu nehmen, aber sein Therapeut hat neue Tabletten verordnet. Dr. Mertens hofft, dass Clemens durch die veränderte Medikation mehr aus sich heraus und in die Umarmung eines sozialen Umfelds treten könnte, doch der springt stattdessen über seinen eigenen Schatten und überwindet die letzte Hemmschwelle. Clemens leuchtet mit seiner Stirnlampe den glatten Stamm der Buche empor. Der Ast reckt sich hoch über seinem Kopf in die Dunkelheit, blickt nicht zurück, sieht nicht einladend oder abweisend aus, ist einfach nur ein stabiler Buchenast. Clemens überprüft den Inhalt seines Rucksacks. Starrt auf das Seil, ohne es wirklich anzusehen. Dann schlingt er seinen Ledergürtel um den Stamm des Baumes und klettert ungelenk nach oben. Seit seiner Jugend ist er nicht mehr auf Bäume geklettert, doch im Grunde ist es wie mit dem Fahrradfahren. Man verlernt es nie. Clemens zieht sich auf den untersten Ast. Keuchend legt er eine Pause ein. Der wackelnde Lichtkegel seiner Stirnlampe macht ihn seekrank. Ärgerlich schaltet er das Lämpchen ab, wartet auf dem Ast, bis sich seine Augen an die Nacht gewöhnt haben. Dann klettert er weiter nach oben, bis er, verschwitzt und außer Atem, den hohen Ast erreicht. Clemens ist am Ziel. Er empfindet Erleichterung. Das Seil ist präpariert, der Knoten ist geübt, Clemens weiß, was er tut. Keine drei Minuten später sitzt er sieben Meter über dem Waldboden, die Schlinge um den Hals gelegt, das Seil fest um den Ast geschlungen. Zum ersten Mal nimmt Clemens seine Umgebung wirklich wahr. Er riecht den harzgeschwängerten Duft des Waldes, hört die Blätter der Buche in der sanften Brise rauschen, spürt ihre kühle Rinde unter seinen Händen. Durch das dichte Laubdach funkeln vereinzelte Sterne. In diesem Augenblick leuchten sie nur für ihn. Clemens springt. Schmerz folgt auf den kurzen Fall, blendender, gellender Schmerz. Schmerz der aufhören will. Nicht mehr gespürt werden will. Der atmen will. Der gequälte Körper bäumt sich auf, wehrt sich krampfhaft gegen das straffe Seil, das gnadenlos den Kehlkopf zerdrückt. Clemens zuckt und schaukelt wild hin und her.
Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Zeit vergeht nicht. Zeit existiert nicht. Nur Dunkelheit. Keine Schmerzen, keine Gedanken, keine Richtung. Nur ein Körper, der an einem Seil im Nichts hängt. Clemens wartet. Hängt da und wartet darauf, dass etwas passiert. Dass sich die Dunkelheit auflöst, oder ein Abgrund sich auftut, aber es bleibt einfach nur Finster. Er erschrickt heftig, als plötzlich eine Frau vor ihm steht, die ein mächtiges Hirschgeweih auf dem Kopf trägt. Mit dunklen Augen sieht sie ihn ausdruckslos an. Ein Blumenkranz aus Lungenkraut, Waldmeister und Goldnessel windet sich durch ihr langes Haar, rankt das ausladende Geweih empor. Ihr Körper verschwindet in einem dicken Mantel aus rotbraunem Fell, der bis zu ihren nackten Füßen reicht. Weidenröschen sprießen zwischen ihren Zehen hervor. Ein intensiver Geruch nach Moschus und Jasmin hüllt Clemens ein, der an seinem Seil baumelt und die Augen aufreißt. „?“ fragt die fremde Frau. Clemens versteht nicht. Er hängt nur sprachlos im Nichts und starrt die Hirschfrau an. „?“ fragt sie erneut, dann zieht sie ein kleines Messer unter ihrem Mantel hervor und schneidet mit einer fließenden Bewegung das Seil durch. Clemens fällt entgeistert ins Nichts. Er landet auf weichem Boden, spürt knisterndes Laub zwischen seinen Fingern, obwohl er nichts sehen kann. Verwirrt blickt er zu der Fremden auf. Die Hirschfrau neigt den schönen Kopf, lächelt und streckt eine schlanke Hand zu ihm aus. Clemens denkt nicht lange nach und ergreift sie. Um ihn herum erwacht die Dunkelheit zum Leben. Schatten von riesigen Bäumen wachsen aus dem Nichts. Recken sich in einen sternlosen Himmel, über den fahle Polarlichter wandern. Hunderte Waldblumen sprießen aus einem federweichen Boden. Prächtiger Fingerhut blüht in leuchtenden Farben, Waldveilchen entfalten sich in einem dicken Teppich aus Sauerklee und Moos. Farne entrollen riesige Blätter, Weißdornbüsche schießen auf und tausende, schneeweiße Blüten verbreiten süßlichen Duft. „?“ fragt die Frau wieder. „Ich kann dich nicht verstehen.“ sagt Clemens und fasst sich erschrocken an den Hals. Er hat den Schmerz nicht vergessen. Er hat die Todesangst nicht vergessen. Die Fremde nickt wissend. Sie zieht Clemens auf die Beine. Hält seine Hand und sieht ihm sanft ins Gesicht. Ihre Haut fühlt sich warm und weich an. Ihre großen, dunklen Augen sprechen von Geborgenheit. „Bin ich tot?“ fragt Clemens mit leiser Stimme. „Im Moment zappelst du noch ein wenig.“ antwortet es rau in seinem Rücken. Clemens dreht sich schaudernd um. In einer jungen Esche sitzt ein Rabe und erwidert herausfordernd seinen Blick. „Krah.“ macht der Rabe. „!“ sagt die Frau. Der Rabe flattert zornig auf und verschwindet krächzend zwischen den mächtigen Bäumen. Clemens sieht ihm erstaunt hinterher. „Was war das?“ fragt er. Die Fremde berührt sein Gesicht, wendet es sanft dem ihren zu. Die Hirschfrau haucht ein Lied. Die Melodie ist simpel und doch komplex. Traurig und trotzdem heiter. Leise und dabei so laut, dass der Wald erzittert. Clemens spürt das Lied in seinem Kopf, fühlt, wie die Töne auf seiner Haut prickeln und sein Innerstes berühren. Er drückt die Hand der Fremden, so fest er kann. Weint, lacht, weiß selbst nicht, was er empfindet. Während sie singt, rankt der Blumenkranz im Haar der Hirschfrau langsam über ihren Rücken, den langen Mantel hinunter. Verschmilzt mit dem dichten Blütenteppich auf dem Waldboden. Fingerhut beginnt, ihren Rücken hinauf zu wachsen. Zu ihren Füßen reifen Erdbeeren. Clemens lauscht verzaubert, saugt die Melodie in sich auf, spürt, wie sein ganzer Körper mit den Tönen schwingt. Berauscht gerät er ins Taumeln, lässt die Hand der Hirschfrau los und fällt jäh ins Nichts. Erschrocken starrt Clemens die blumenumrankte Gestalt an, die in der absoluten Dunkelheit vor ihm steht. Das Lied ist verklungen, der Wald ist verschwunden, Clemens zittert. „Wer bist du?“ fragt er. Die Fremde antwortet mit einer traurigen Geste. „?“ fragt sie ihn und streckt erneut die Hand aus. Clemens liegt auf dem Rücken im Nichts, starrt auf ihre Hand, starrt auf die Erdbeeren, die immer noch zwischen ihren Zehen reifen. Er hebt den Kopf. Über ihm baumelt sein Körper am Seil. Seine Füße treten wild durch die Luft, seine Hände versuchen krampfhaft, die enge Schlinge zu lösen. „Ich sterbe gerade.“ stellt er nüchtern fest. Die Hirschfrau sieht ebenfalls zu seinem zuckenden Körper hinauf, sie nickt langsam. „Du bist so etwas wie ein Engel.“ flüstert Clemens und kommt sich dumm vor. Die Fremde sieht ihn sanft an und streckt wieder die Hand aus. „Okay.“ sagt er nur und greift nach ihr. Schon steht er wieder im dichten Blütenmeer, sein baumelnder Körper verschwindet, hohe Bäume ersetzen den bitteren Anblick. Polarlichter ziehen wieder über einen nachtschwarzen Himmel. Clemens atmet den intensiven Duft von Moschus und Jasmin, verliert sich in der Farbenpracht des Waldes. „Sing mir dein Lied.“ bittet er. Im Geweih der Frau erblüht roter Fingerhut, als sie erneut die überirdische Melodie haucht. Clemens beobachtet gebannt, wie sich ihre vollen Lippen teilen. Sein Blick gleitet über ihr betörendes Gesicht. Vorsichtig berührt er die glatte Haut ihrer Wange. Die Hirschfrau schließt die Augen, tritt näher an ihn heran. Clemens nimmt sie in die Arme, versinkt in der wohligen Wärme ihres Pelzes. Das Lied schwingt in ihm, er zertritt achtlos die Beeren, die zu seinen Füßen wachsen. Schmiegt sich an ihren weichen Körper, verliert sich im Augenblick. Die Fremde öffnet die Augen und beendet ihr Lied. Die Melodie schwingt trotzdem weiter, wird von den Blüten und Blättern des Waldes getragen. Klingt in den Polarlichtern am Himmel. Clemens atmet tief ein und küsst sie. Eng umschlungen stehen sie da, unter den wogenden Zweigen der gewaltigen Bäume. Der Wald erzittert in einer großartigen Harmonie. Die Hirschfrau legt ihren Mantel um Clemens Schultern, erwidert fordernd seinen schüchternen Kuss. Clemens kriecht in ihre innige Umarmung, versinkt in ihrem animalischen Duft. Zarte Blumen beginnen in seinem Haar zu sprießen.
Ein Fuchs beobachtet das Liebespaar. Er liegt unter einem Weißdorn und zuckt ungeduldig mit den Ohren. „Wann können wir endlich anfangen?“ fragt er. Oben im Weißdorn hockt der Rabe. „Wen meinst du mit wir?“ fragt er zurück. „Bruder, du gibst mir doch etwas ab.“ bettelt der Fuchs und hechelt treuherzig zum Raben empor. „Mein Fund, mein Fest.“ antwortet der. „Es ist doch genug für uns beide da.“ bittet der Fuchs und zeigt beim Lächeln alle Zähne. „Das wird sich zeigen.“ brummt der Rabe. „Wir könnten ein Spiel spielen.“ schlägt der Fuchs vor. „Ich kenne deine Spiele.“ versetzt der Rabe. „Andererseits, warum nicht. Es dauert eine Weile, bis sie seine Seele gefressen hat.“ Der Fuchs nickt wissend. Gemeinsam ziehen sie sich tiefer in den Wald zurück.
© sybille lengauer
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